Analyse zu den Wahlen in Estland (März 2023): Wie Estlands eiserne Lady zur strahlenden Siegerin wurde

erschienen in der Katholischen Wochenzeitung “Tagespost”, 9. März 2023
 
https://www.die-tagespost.de/politik/wie-estlands-eiserne-lady-zur-strahlenden-siegerin-wurde-art-236315
 
KAJA KALLAS

Wie Estlands eiserne Lady zur strahlenden Siegerin wurde

Mit klaren Positionen gegenüber Russland hat Estlands Ministerpräsidentin einen fulminanten Wahlsieg errungen. Nun hat sie mehrere Koalitionsoptionen.
Nach Parlamentswahlen in Estland

Foto: Sergei Grits (AP) | Kaja Kallas, Premierministerin von Estland, spricht während einer Pressekonferenz. Die Menschen in Estland setzen angesichts des russischen Kriegs in der Ukraine auf politische Kontinuität.

Durch die Nachbarschaft zu Russland ist die Bedeutung des Baltikums, als Außengrenze von EU und NATO deutlich gestiegen. Estland gilt durch die Idee des digitalen Staats, auch in Bereichen wie Bildung und Gesundheit, aber auch durch Kompetenzen in der Cybersicherheit als besonders fortschrittlich. Seit 2005 hat Estland die Möglichkeit des E-Voting erlaubt. Bei der Wahl, die am 27. Februar begann und am Sonntag, den 5. März. Nun gab es einen Rekord: Erstmals wählten mehr Wähler (51 Prozent) online als analog (49 Prozent). Die Technikaffinität ist im Land, in dem Religion kaum eine Rolle spielt und religiöse Feste außer Ostern und Weihnachten nicht gefeiert werden, mit den Händen zu greifen.  Seit 2008 ist in Tallinn das NATO-Zentrum angesiedelt. Das war die Folge eines Cyberangriffs aus Russland. 

Das Verhältnis ist nicht nur deswegen stark angespannt. Im April 2022 beschloss das estnische Parlament als erstes Parlament der Welt mit großer Mehrheit, den völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine als Genozid zu bezeichnen. Nun gibt es Bemühungen, Denkmäler aus der Sowjetzeit umzubenennen oder gar vollständig zu eliminieren. Im November 2022 kam eine von der Regierung eingesetzte Arbeitsgruppe zum Ergebnis, dass es 322 sowjetische Denkmäler gibt. Über 50 sind bereits entfernt worden, am prominentesten das Panzersymbol (T-34) von Narva, das an den Sieg über „Nazi-Deutschland“ erinnert.  Der Fokus auf Außenpolitik und Sicherheit machte die Parlamentswahlen eher zu außenpolitischen Wahlen. In Estland laufen viele Solidaritätsaktionen für die Ukraine, was die Mobilisierung erklärt. Gegenüber den Wahlen 2019 (58 Prozent) stieg die Wahlbeteiligung insgesamt deutlich auf 63,5 Prozent.  

Bestes Ergebnis seit Parteigründung 1994

Kaja Kallas, die amtierende Premierministerin, hat mit ihrer liberalen Partei am vergangenen Sonntag einen fulminanten Wahlsieg errungen. Ihre Partei holte 37 von 101 Sitzen, drei mehr als bei der letzten Wahl 2019. Das ist das beste Ergebnis für die Partei seit ihrer Gründung 1994, die bereits vorher oft den Premierminister stellte. Und mehr noch: Kallas selbst erzielte bei der Direktwahl die meisten Stimme, die ein Politiker in Estland jemals erhalten hat. Ihre Partei findet Anhänger vor allem in der urbanen Mittelschicht, bei Wählern, die gut ausgebildet sind. Wichtig ist der Wahlsieg insofern, als sich das liberale Estland mit erstarkten rechtsradikalen Kräften, namentlich der EKRE-Partei konfrontiert sah.

Kallas hat nun an EKRE vorbei verschiedene Koalitionsoptionen – bei sechs Parteien im Parlament. EKRE wird mit 16,1 Prozent (17 Sitzen) nun voraussichtlich die größte Oppositionspartei im estnischen Parlament. Eine Überraschung stellt der erstmalige Einzug der Partei Estland 200 (Eesti 200, E200) dar, die mit 13,3 Prozent (14 Sitzen) deutlich die 5-Prozent-Hürde überwand. Wieder in das Parlament einziehen werden die estnische Zentrumspartei (Eesti Keskerakond) mit 15,3 Prozent (16 Sitzen), die Sozialdemokraten (Sotsiaaldemokraatlik Erakond) mit 9,3 Prozent (9 Sitzen) und die Vaterlandspartei (Isamaa) mit 8,2 Prozent (8 Sitzen) der Stimmen. 

Die neue Wahlmöglichkeit wird vor allem durch die Partei Eesti 200 symbolisiert. Sie ist zwar keine völlig neue Partei, hat aber einen frischen und jungen „Anstrich“ erhalten und wirbt mit Aussagen, dass man es „anders als die anderen Parteien“ machen will. Das verkörpern auch einige Seiteneinsteiger, die vorher nicht politisch aktiv waren. Eine genaue Definition, was dies auf Politikfelder transferiert bedeutet, bleibt sie außer der Idee eines „großen progressiv-liberalen Plans für ein reformfreudiges Estland“ schuldig, doch der Erfolg gibt ihr erstmal Recht. Neben Eesti 200 kann Kallas zwischen den Sozialdemokraten und der Mitte-Rechts-Partei Isamaa wählen. 

Prorussische Positionen werden in Estland nicht goutiert

Das war 2019 noch anders, da dann an Kallas vorbei eine Koalition mit EKRE gebildet wurde. Statt Premierministerin wurde sie trotz Wahlsieg lediglich Oppositionsführerin. Erst als die Koalition im Januar 2021 zerbrach, konnte Kallas Premierministerin werden. Nun ist Kaja Kallas in der komfortablen Lage, sich einen Koalitionspartner aussuchen zu können. Denn es ginge auch mit ihren bisherigen Koalitionspartner, den Sozialdemokraten 9,4 Prozent – 9 Sitze) und der konservativen Isamaa (8,4 Prozent – 8 Sitze). Isamaa hatte zuvor versucht, ihre Position als Zünglein an der Waage zu stärken, da sie potenziell auch bereit war, mit EKRE (17 Sitze) zu koalieren. Doch durch das Ergebnis ist das rechnerisch unmöglich geworden. EKRE, in den Umfragen zweitweise stärkste Kraft, hat auch deshalb im Wahlkampf verloren, weil die Partei plötzlich für eine neutrale Position im Russland-Ukraine-Krieg warb. Diese Position wird in Estland nicht goutiert. 

Mit klaren Positionen gegenüber Russland hat sie bereits im letzten Jahr auf sich aufmerksam gemacht.  Kallas forderte auf der Münchener Sicherheitskonferenz im Februar, dass Russland für die Kriegsverbrechen verantwortlich gemacht werden müsse. Daneben spricht sie sich für ein europäisches Verteidigungssystem aus. Schon bevor der Krieg ausbrach, hat Estland Waffen gesandt, auch humanitäre Hilfe für die Ukraine geleistet. Estland gibt mittlerweile ein Prozent seines Bruttoinlandproduktes (BIP) für Militär- und Wirtschaftshilfen für die Ukraine aus.
Kaja Kallas hat auch beharrlich gemahnt, dass der Westen mehr tun müsse, um Wladimir Putin zu stoppen. International wurde sie als die „Stimme Osteuropas“ oder als „eiserne Lady des Baltikums“ wahrgenommen. Intern sind die Herausforderungen groß, etwa die hohe Inflation, bis zu 24,2 Prozent im September die höchste in der EU, und ähnlich wie in Deutschland die Frage der Energieversorgung. Der mit Finnland gemeinsam gestartete LNG-Terminal sollte nach Estland kommen, ist nun aber in Finnland angesiedelt. Und die Frage der Integration der russischstämmigen Bevölkerung bleibt eine große Herausforderung. 

Die russische Minderheit wählte bisher traditionell die eher sozialpopulistisch orientierte Zentrumspartei, die während ihrer Regierungszeit von 2016 bis 2021 eher zerstritten wirkte und Imageschäden erlitt. Sie fiel von 21,3 Prozent (2019) auf 14,5 % Prozent zurück und verfügt nur noch über 16 Sitze (2019: 26 Sitze). Hätte es dazu gereicht, so schätzten die meisten Kommentatoren es ein, wäre die Zentrumspartei, obwohl selbst nicht rechtsextrem, wohl wieder eine Koalition mit EKRE eingegangen.

Starkes Mandat für Kallas

In der nordöstlichen Region Ida-Virumaa wählte ein Drittel der Einwohner Politiker, die eine russlandfreundliche Sicht auf den Krieg in der Ukraine vertraten. Etwa 90 Prozent der Einwohner von Ida-Virumaa sind russischsprachig. Eine obskure Pro-Putin-Partei, die Vereinigte Linke (Eestimaa Ühendatud Vasakpartei), holte durch ihre Stärke in Gebieten mit starkem russischstämmigen Anteil 2,4 Prozent. Keiner hatte die Partei auf dem Zettel, sie war auch medial nicht präsent.

EKRE wird die Polarisierung weiter betreiben. Martin Helme, Vorsitzender von EKRE, kündigte bereits kurz nach Wahlschluss an, dass seine Partei das Wahlergebnis anfechten wird. Er begründete dies mit der vermeintlichen Unzuverlässigkeit und fehlenden Logik der digitalen Stimmabgabe. In die gleiche Kerbe schlug der christliche Fundamentalist und Jurist Varro Vooglaid, der nun als parteiloser Kandidat für EKRE im Parlament sitzt. Voglaid hat sich in den letzten Jahren zu einem der einflussreichsten wie umstrittensten Aktivisten in Estland entwickelt. 

Insgesamt zeigt das Ergebnis aber für die nächsten vier Jahre ein starkes Mandat für die alte und neue Premierministerin Kallas.