Anlässlich des Urteils gegen den Halle-Attentäter. Meine Analyse auf Cicero.de (21.12)

Cicero.de

URTEIL GEGEN HALLE-ATTENTÄTER

Opfer einer Kränkungsideologie

Nach dem Terroranschlag von Halle hat das Oberlandesgericht Naumburg Stephan B. zur Höchststrafe verurteilt. Der Prozess deckte erschreckende Lücken bei der Kriminalitätsbekämpfung im Internet auf. Aber nicht nur deshalb markiert das Verbrechen eine Zäsur.

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Keine Zeichen der Reue: Stephan B. am letzten Prozesstakt vor dem Oberlandesgericht Naumburg / dpa

14 Monate nach dem Anschlag wurde der Terrorist von Halle wegen zweifachen Mordes, vielfachen Mordversuchs und Volksverhetzung nun zur Höchststrafe verurteilt –  lebenslange Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung. Er, der nie eine Freundin hatte und bei seiner Mutter lebte, verkörpert einen neuen Terrortypus, den einsamen Wolf, sozial isoliert, aber virtuell vernetzt. Der Verfassungsschutz sieht mittlerweile „einen missionarischen Tätertyp am Werk, der von seinen Vorgängern inspiriert ist und seine eigene Tat als Initialzündung für künftige Nachahmer versteht.“

Tarrant, der am 15. März 2019 im neuseeländischen Christchurch in zwei Moscheen eindrang und 55 Menschen ermordete, wird in der Online-Community verehrt. Er fand direkte Nachahmer – auch in Deutschland. Der zum Tatzeitpunkt 27-jährige Stephan B. lud sich das Video herunter und fühlte sich sofort „berufen“, eine schaurige Tat zu begehen. Ursprünglich wollte auch er eine Moschee „angreifen“, entschied sich dann aber für die jüdische Synagoge in Halle. 

Eine hölzerne Tür rettete 51 Menschen das Leben 

Die Tat von Christchurch galt ihm als „Trigger“. Wie sein virtueller Spiritus Rector nahm er seine Tat am 9. Oktober 2019 mit der Kamera eines an seinem Helm befestigten Smartphones auf. Er lud zwei Videos seiner Tat auf die Plattform Twitch hoch. Wer sein Hauptfeind ist, wird bereits in seiner Einleitung klar. Er spricht bewusst auf Englisch, um mehr Publikum zu erreichen: „Hey, my name is Anon. And I think the Holocaust never happened.“

„Anon“ leitet sich von den englischsprachigen Imageboards ab, bei denen die Nutzer automatisch den Namen „Anonymous“ zugewiesen bekommen. Aber Anon alias B. scheiterte, in die Synagoge einzudringen. Der Zeitpunkt war bewusst gewählt. Es war Jom Kippur, das Fest der Versöhnung, der höchste Feiertag der Juden.  51 Menschen hielten sich in dem Gotteshaus auf. Die hölzerne, aber gut gesicherte Eingangstür rettete ihr Leben.

Auch ein somalischer Asylbewerber wurde verletzt 

Nach seinen eigenen Worten „Loser“, steuerte er daraufhin mit seinem Auto einen wenige hundert Meter entfernten Dönerimbiss an und tötete willkürlich zwei Menschen: Deutsche. Die beiden Opfer passen nicht in die auf den Imageboards verbreiteten Feindbilder, weshalb Stephan B. in der einschlägigen Online-Subkultur vorwiegend verspottet wird.

Was kaum bekannt ist: Der Täter verfolgte und verletzte auf seiner Flucht mit dem Auto einen somalischen Asylbewerber, mit dem Ziel ihn zu töten. Wie seine Vorgänger und Vorbilder, der Täter von Norwegen, Breivik, sowie der Täter von Christchurch, Tarrant, zeigte er keine Reue. Weitere Parallele: Wie Breivik und Tarrant fiel er vor den Taten weder der Polizei noch dem Verfassungsschutz auf. Ebenso gilt er im rechtlichen Sinne als voll schuldfähig, wie von fachlicher Seite bestätigt wurde. Stephan B. ist ein Verlierer, der sich als „NEET“ sah  – die englische Abkürzung für „Not in Education, Employment or Training“, also eine Person, die keiner Ausbildung und Arbeit nachgeht. So zeigte er sich im Internet.  

Kinder unserer Zeit 

Alle Täter, die ihre Zeit lange vor den Taten fast ausschließlich vor dem Computer verbrachten, flüchteten sich als einsame Menschen in dunkle Parallelwelten und radikalisierten sich politisch. Die bindungsunfähigen und generell sozial isolierten Männer, die – wie der Täter von Halle – nicht einmal in der Nachbarschaft bekannt waren, agierten als Opfer einer Kränkungsideologie.

Die Ideologie ist auf persönliche Frustrationen zugeschnitten. Der Attentäter von Halle gab etwa zu Protokoll: „Die Flüchtlingskrise war für mich eine Zäsur. Man hat den Flüchtlingen angesehen, dass sie aggressiv sind. (…) Ich will meine Meinung nicht jedem aufzwängen. Und ich habe kein Problem damit, dass es für jeden ein eigenes Land gibt. Ich lebe im hinterletzten Viertel Deutschlands, dem zweit ärmsten Landkreis, und selbst dort sind die Muslime schon angekommen. Ich will nicht, dass man mir diesen Multikulturalismus aufzwingt, auch wenn den vielleicht 99 Prozent der Menschen wollen. Ich habe mich schon ziemlich in mein Zimmer zurückgezogen. Ich habe extrem darunter gelitten, dass das mit meinem Studium nicht geklappt hat.“

Notwendige Debatten 

Der Täter von Halle sah sich als Teil einer Online-Community. Er wandte sich an seine „Fans und verwandte dann auch nach einigen Pannen viele in der Gamer-Szene typische Begriffe wie „total fail“ und „total loser“. Er lebte ganz in virtuellen Welten, wo er sich in eine persönliche Kränkungsideologie hineinsteigerte. Antisemitismus, radikaler Frauenhass und Feindschaft gegenüber dem Islam waren die Versatzstücke.

Das Bundesamt für Verfassungschutz sollte bei den Ermittlungen zu dem Attentat in Halle helfen. Man teilte der Polizei mit, leider nur eingeschränkten Zugang zu der öffentlichen Software „Steamid.uk” zu haben. Journalisten haben mit dieser Software weitere Steam-Freunde des Hallenser Attentäters gefunden. Diese tauchten nicht in den Gerichts-Akten auf.

Mehr noch: Beim Verhör des Hallenser Attentäters, wird er trotz seines exzessiven Gaming-Verhaltens auf Steam nicht über seine Steam-Kontakte befragt. Für die Ermittler des Bundeskriminalamts (BKA) waren die Internetforen und Gaming-Plattformen, auf denen sich Stephan B. oft viele Stunden jeden Tag virtuell bewegte, offensichtlich unbekanntes Terrain. Im Prozess gegen ihn mussten sie zugeben, dass sie kein wirkliches Fachwissen über diese Onlineplattformen und das Vokabular der Subkulturen besitzen. „Ich bin keine Gamerin“, so die nüchterne Selbstdarstellung einer BKA-Beamtin.

Exzessives Gaming-Verhalten 

Der Täter von Halle war in keiner Partei, Kameradschaft oder rechten Chatgruppe, hatte keine Berührungspunkte zur lokalen Szene. Er wusste, dass er sich verdächtig machen würde, wenn er seine antisemitische Gesinnung im Netz äußert. Deshalb war er auf anonymen, meist amerikanischen Seiten unterwegs. Stephan B. nutzte auch keine Social-Media-Accounts, da er nicht mit seinen persönlichen Daten erfasst werden wollte. Die Nutzung eines Smartphones soll er auch abgelehnt haben, da er der Meinung war, dass man abgehört werde und alles nachverfolgbar sei.

Ein Großteil der einsamen Wölfe zeigt exzessives Gaming Verhalten in brutalen Spielen. Gewaltverherrlichende Steam-Gruppen werden nicht moderiert. Steam muss, anders als sonstige Kommunikationsanbieter, seine Inhalte nicht kontrollieren. Die populäre Plattform speichert diese kaum zur Aufklärung von Straftaten. Die Debatte hätte man schon nach dem OEZ-Anschlag vom 22. Juli 2016 in München führen müssen. Die Tat galt aber drei Jahre und drei Monate nach offizieller Einstufung der bayerischen Staatsregierung noch als unpolitisch, bevor sie dann neu bewertet wurde. Auch deshalb galt Halle als Zäsur. 

„Der Staat hat den Rechtsextremismus bagatellisiert“ 

Bei einer Bundestagsdebatte am 5. März 2020, fand Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble deutliche Worte.  Sinngemäß lassen sich seine Einlassungen auf diese Weise zusammenfassen: Der Staat müsse (endlich) aufrichtig sein und eingestehen, die Gefahren durch den gewalttätigen Rechtsextremismus bagatellisiert zu haben.  

Staat und Behörde können nicht länger warten. Zu schnell schreiten die Entwicklungen voran – angesichts des „Virus des Hasses“, das sich im Cyberspace verbreitet. Mit der COVID-19-Pandemie breiten sich Verschwörungstheorien auf einschlägigen Plattformen inflationär aus bzw. werden revitalisiert. Führende Experten, die den Zusammenhang zwischen Online-Plattformen und terroristischen Anschlägen durch Einzeltäter sehen, befürchten schon jetzt, dass das Anschub für weitere Attacken leisten könnte. Auf diesen Plattformen kommt etwa der alte antisemitische Topos zum Tragen, demzufolge eine jüdische Elite insgeheim die globale Macht inne hat. 

Link: 

https://www.cicero.de/innenpolitik/urteil-halle-attentat-stephan-b-synagoge-rechtsextremismus-internet