HANAU
Ein neuer Terroristentyp
„Einsamer Wolf“ – so nennen Sicherheitsexperten terroristische Einzeltäter. Warum passt dieses Profil auch zum Täter von Hanau? Welche Gefahren liegen in einer politischen Instrumentalisierung des Anschlags? Eine Analyse.


Nach dem Anschlag von Hanau greift eine allgemeine Verunsicherung um sich. Das zeigen die Reaktionen: So wird versucht, der AfD die Schuld in die Schuhe zu schieben. CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer und SPD-Chefin Saskia Esken sprechen nun von „Brandmauern” gegen die AfD – was immer diese bringen sollen. Diese Wortwahl ist unglücklich, denn sie treibt die Spaltung des Landes weiter voran. Andere fordern nun eine Beobachtung der AfD durch den Verfassungsschutz. Im Zuge der Ereignisse von Thüringen scheint sich die antiextremistische Bundesrepublik in eine antifaschistische verwandelt zu haben. Das wird aber alles dem komplexen Phänomen nicht gerecht, mit dem wir es bei diesem Anschlag zu tun haben..
Zunächst ein Blick zurück in den Oktober, wo schon einmal die Republik in helle Aufregung geraten ist: Der 27-jährige Stephan Balliet versuchte am 9. Oktober, mitten am Tag in Halle in eine jüdische Synagoge einzudringen und ermordete, nachdem ihm dies misslungen war, willkürlich zwei Menschen. Nun sorgte ein 43-jähriger gelernter Bankkaufmann mit absolviertem Studium, Tobias R., für ein Fanal. Scheinbar unauffällig, sozial isoliert und arbeitslos bei seinen Eltern lebend, ermordete er in Hanau zehn Menschen, darunter seine Mutter, verletzte zusätzlich Menschen schwer und richtete dann sich selbst.
Auswahl der Opfer deutet auf Rechtsterrorismus hin
Bereits die Auswahl seiner Opfer deutet auf Rechtsterrorismus hin, da R. Orte aufgesucht hat, an denen sich bevorzugt Menschen mit Migrationshintergrund befinden. R. mordete kaltblütig und aus nächster Nähe. Die Tat war akribisch vorbereitet, von langer Hand geplant. Dafür sprechen ein 24-seitiges Manifest, das R. hinterlassen hat sowie ein Youtube-Video. Der Täter hatte also das Ziel, seine kruden Verschwörungstheorien zu verbreiten. So hat sich R. in seinem Manifest an das „gesamte deutsche Volk“ gewandt. Sein Youtube-Video hingegen richtet sich, von R. in sehr gutem Englisch eingesprochen, an „alle Amerikaner“. Aufgenommen wurde es im heimischen Zimmer. Man sieht das nicht-gemachte Bett im Hintergrund. Die Botschaft „aus dem Kinderzimmer“ ist eindeutig. Der Täter fühlt sich verfolgt, spricht davon, dass er von einem Geheimdienst überwacht werde. R. fantasiert davon, dass er am liebsten die ganze Welt „eliminieren“ wolle, von Marokko über die Türkei bis hin zu den Philippinen. Am Ende solle dann auch das eigene Volk „daran glauben“. Deutlich wird hier, was den Einzeltäter Tobias R. ausmacht. Er schneidert sich eine persönliche Kränkungsideologie zurecht, die persönliche Frustrationen mit politischen Motiven verbindet. Seine Tat trägt klar die Handschrift eines rechtsterroristischen Einzeltäters, eines „einsamen Wolfs“.
Was ist unter einem „einsamen Wolf“ in diesem Zusammenhang zu verstehen? Mit dieser Metapher wird Terror durch Einzelne bezeichnet, hinter denen keine Organisation die Strippen zieht. Lange meinten wir, dieses Phänomen vor allem anderen Weltregionen zuordnen zu können. Etwa Afghanistan oder dem Irak; wir kennen es auch aus dem israelisch-palästinensischen Konflikt, in dem etwa radikale Palästinenser gezielte Messerattacken verübt haben. Mittlerweile ist dieses Phänomen nun aber auch bei uns angekommen.
Die Tendenz zum Einzeltäter zeichnet sich dabei nicht nur im Rechtsterrorismus ab, sie ist auch beim islamistischen Terrorismus festzustellen. Und noch eine weitere Parallele zwischen beiden Terror-Formen ist hier augenfällig: Auch beim islamistischen Einsamen-Wolf-Terrorismus brauchen die Behörden scheinbar lange, um auf dieses Phänomen angemessen zu reagieren. Dabei liegt hier die „Zäsur“ für den Rechtsstaat, der islamistisch motivierte Terroranschlag des damals 24-jährigen Tunesiers Anis Amri in Berlin, schon über drei Jahre zurück. An diesem 19. Dezember starben zwölf Menschen, mehr als 60 wurden zum Teil schwer verletzt.
Der Linksextremismus hingegen ist wohl eher als Gruppenphänomen zu deuten, hier ist der „einsame Wolf“ weniger zu finden. Dabei stammt die Idee des alleine losschlagenden Einzeltäters historisch aus dem Anarchismus des 19. Jahrhunderts. Ganz unbekannt ist dieser Tätertypus so auch hier nicht. Ein Beispiel aus den USA: 2017 verübte der 66-jährige James T. Hodgkinson ein Attentat auf republikanische Abgeordnete. Dieser linksextremistisch motivierte Lone-wolf-Terrorist hatte Bernie Sanders im Präsidentschaftswahlkampf unterstützt, er hasste Donald Trump.
Was lässt sich zur Typologie solcher Einzeltäter generell sagen? Es sind Männer, die sich eine persönliche Sendungsideologie zurechtgebastelt haben, sie haben sich virtuell radikalisiert. Sie agieren als Public-Relations-Strategen in eigener Sache und wollen für ihre Terrortaten eine hohe Publizität erzielen. Der Täter von Hanau hat eben deswegen im Vorfeld sein Manifest und das Youtube-Video vorbereitet. Hier wird ein großes Maß an Narzissmus deutlich. Der Täter sieht sich als Retter, Erlöser und Befreier. Die hinterlassenen Pamphlete und Videos von Tobias R. zeigen: Das Motiv des Täters von Hanu entspricht nicht klischeehaft dem eines klassischen Neonationalsozialisten. Charakteristische Merkmale für so ein Profil wären etwa Hitler-Verehrung, Rassismus und Antisemitismus.
Jeder „einsame Wolf“ hat seine eigene Kriegsideologie
Jeder „einsame Wolf“ hat seine eigene Kriegsideologie. Jedes Manifest trägt daher eine unterschiedliche Handschrift. Der norwegische Rechtsterrorist Andres Behring Breivik etwa, bei dessen Anschlägen 2011 insgesamt 77 Menschen umgekommen sind, sah sich als Tempelritter, der Europa vor einer Islamisierung rettet. David Sonboly wiederum, der bei seinem Anschlag im Juli 2016 im Olympia-Einkaufszentrum in München neun Menschen getötet hat, wollte sein Vaterland befreien. Und der Täter von Halle, Stephan Balliet, sieht „die Juden“ verantwortlich für alles Übel dieser Welt. Bei dem Täter von Hanau, Tobias R., finden sich neben Vernichtungsphantasien Verschwörungstheorien eigener Art, die etwa auch an die sogenannten „Reichsbürger“ erinnern. Ähnlich wie diese suchte R. den Kontakt zu Behörden und wandte sich an die Bundesanwaltschaft, um diese auf die angebliche Existenz einer Geheimorganisation aufmerksam zu machen.
R. suchte deswegen auch eine Privatdetektei auf. All das zeigt, dass der Täter offenbar psychisch gestört war, unter Verfolgungswahn litt.
Doch das schließt eine politische Radikalisierung, eine politische Motivlage nicht aus. Das eine sollte nicht gegen das andere ausgespielt werden: Psychische Gestörte können Extremisten, Extremisten psychisch gestört sein.
Eine weitere Parallele bei R. zu anderen Tätern dieses Typs: Es handelt sich um beziehungsunfähige Männer mit zahlreichen persönlichen Frustrationen. Bei R. ist auffällig, dass er ein gestörtes Frauenbild zu haben scheint. Dem Thema ist in seinem Manifest ein ganzes Kapitel gewidmet. Er spricht in seinen Texten auch davon, er habe extra angefangen zu studieren, um eine Frau kennenzulernen. Nach einem Date habe er aber feststellen müssen, dass seine Bekannte auch irgendwie überwacht worden sei. Offenbar hat hier die sogenannte „Incel“-Bewegung Einfluss auf das Weltbild des Täters ausgeübt: Diese Bewegung stammt aus den USA. Ihre Vertreter agieren vor allem in virtuellen Welten, etwa auf den Plattformen „4chan“ und „8chan“. „Incels“ betrachten sich oft als Männer zweiter Klasse, die sich von Frauen zurückgewiesen fühlen und Rache üben wollen. Sie denken, dass sie deshalb auf der Verliererseite stünden, da Frauen „Alphamänner“ wollen. Hinzu kommt: Der Täter wohnte bei seiner Mutter – die er nun auch umgebracht hat. Auch Anders Behring Breivik war wieder bei seiner Mutter eingezogen. Stephan Balliet, der Täter von Halle, hat ebenfalls bei seiner Mutter gelebt. Hier lässt sich ein Muster erkennen.
Soziales Leben komplett ins Netz verlagert
Ein anderer Aspekt: Das soziale Leben der Täter hatte sich mehr oder weniger komplett ins Internet verlagert. Den Täter von Halle etwa kannte man nicht einmal in der örtlichen Kneipe. Er war ausschließlich im virtuellen Raum sehr aktiv. Ähnlich war es bei Tobias R. Er war Narzisst, hielt sich für ein Genie. Im Internet suchen solche „einsamen Wölfe“ nach Gleichgesinnten, nach ihrem ideologische Rudel. Und dieses trägt dann zu einer weiteren Radikalisierung der Täter bei. Beim Individual-Terrorismus spricht man in diesem Zusammenhang von einer spezifischen Radikalisierungsphase: Irgendwann gibt es den sogenannten Trigger, den auslösenden Punkt, wo es dann in die Planungsphase übergeht, wo der Täter sich ganz konkret damit beschäftigt, wie er sich eine Waffe beschafft. Tobias R. verschaffte sich die Tatwaffe legal, war Mitglied eines Schützenvereins. Die Sicherheitsbehörden sind sich mittlerweile dieser Gefahr bewusst. Es gibt neue Analysetools, etwa das Risikobewertungssystem Radar-rechts, das auch bereits im Bereich der Bekämpfung des islamistischen Terrors eingesetzt wird.
Das Bundesamt für Verfassungsschutz arbeitet inzwischen testweise mit Künstlicher Intelligenz, um im Internet mithilfe bestimmter Schlüsselwörter potenzielle Täter aufzuspüren. Trotzdem gibt es noch eine Menge Baustellen in den Behörden. Vor allem mit Blick auf das nötige Personal: Der Verfassungsschutz geht intern davon aus, dass noch immer bundesweit eine dreistellige Zahl von Mitarbeitern fehlt – allein im Bereich Rechtsextremismus. Vor allem IT-Fachleute und Daten-Auswerter werden händeringend gesucht.
Schließlich bleibt festzustellen: Die „einsamen Wölfe“ sind Kinder ihrer Zeit und Seismographen unserer Zeit. Beruhigend ist das alles nicht, auch wenn die Politik beschwichtigen muss. Vielleicht helfen Rezepte aus anderen Ländern. Nach dem Breivik-Schock gab man in Norwegen die Parole „mehr Offenheit“ aus. Vielleicht sollte man hierzulande ähnlich reagieren. Politische Bildung sollte hier ansetzen: Langfristig sollte von Jugendlichen in der Schule gelernt werden, wie man mit Fake News, alternativen Medien und Verschwörungstheorien umgeht.
Der Autor ist Politikwissenschaftler und unterrichtet unter anderem an der Fachhochschule der Polizei Sachsen-Anhalt. 2018 erschien von ihm „Einsame Wölfe. Der neue Terrorismus rechter Einzeltäter“ (Hoffman und Campe). Florian Hartleb war Gutachter der Stadt München im Fall des Anschlages von David Sonboly am 22. Juli 2016 im Münchner Olympia-Einkaufszentrum (OEZ)
Link:
https://www.die-tagespost.de/politik/aktuell/Ein-neuer-Terroristentyp;art315,205809