“Geschmerzt hat mich eine Erfahrung – unsere deutschen Gesprächspartner in Estland waren sich alle einig: Zurück wollen sie nicht. Nicht nur, aber auch, weil die öffentliche Verwaltung in Deutschland eine Katastrophe sei.”
Zitat des Präsidenten der deutschen Familienunternehmer Reinhold von Eben-Worlée nach einer von mir organisierten Reise nach Estland – Kommentar in der Zeitung “Die Welt”
Estland hat uns abgehängt. Was E-Government angeht, haben die Esten in den 2000er-Jahren vieles umgesetzt, worüber wir in Deutschland immer noch nur theoretisch diskutieren. Was das konkret bedeutet, konnte ich mit einer Gruppe von Familienunternehmern in Estland erfahren. Nach vielen Gesprächen kann ich sagen: Estlands Ruf als digitales Musterland ist mehr als gerechtfertigt.
Ein Beispiel: Alle estnischen Bürger haben eine elektronische Identität. Diese dient nicht nur als Zugang zu ihrem eigenen zentralen Verwaltungskonto, sie kann auch für viele private Angebote genutzt werden. Über das Verwaltungskonto gibt es einen Zugriff auf alle staatlichen Dienstleistungen – von der Steuererklärung, die meistens nur Minuten dauert, bis zur digitalen Krankenakte.
Mit einer solchen Infrastruktur im Hintergrund kann man dann auch auftauchende Probleme schnell und unkompliziert lösen. Mich hat zum Beispiel der Umgang mit dem Thema Organspende beeindruckt. Jeder estnische Bürger kann in seinem Verwaltungskonto per Mausklick und Eingabe seines Pins angeben, ob er Organspender sein möchte oder nicht.
Jeder Bürger sollte die digitalen Services verstehen und anwenden können. Nur dann werden sie auch genutzt. Auch Vertrauen spielt eine große Rolle. So kann man genau nachvollziehen, wer auf die eigenen Daten zugegriffen hat. Bei Missbrauchsfällen gibt es drakonische Strafen.
Ein Arzt, der Daten ungerechtfertigt weitergibt, verliert zum Beispiel seine Zulassung. Deswegen kommt es kaum zu Fehlverhalten. Dieser pragmatische Ansatz beim Thema Datenschutz hat mich überzeugt – und die EU-Datenschutzgrundverordnung gilt ja auch in Estland.
Geschmerzt hat mich eine Erfahrung – unsere deutschen Gesprächspartner in Estland waren sich alle einig: Zurück wollen sie nicht. Nicht nur, aber auch, weil die öffentliche Verwaltung in Deutschland eine Katastrophe sei. Im Bereich der öffentlichen Verwaltungen ernteten wir immer wieder eine Mischung aus Mitleid, Spott und Ungläubigkeit.
Estland zeigt, dass Sicherheitsbedenken und Kosten keine Hindernisgründe sind. Umgesetzt wurde die Verwaltungsdigitalisierung nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, als es dem Land wirtschaftlich nicht besonders gut ging. Dass die digitale Verwaltung in einem Land funktioniert, dessen großer Nachbar im Osten für seine digitalen Angriffsfähigkeiten bekannt ist, zeigt: Die Sicherheitsrisiken sind auch unter großem Druck beherrschbar.
Welche Empfehlungen lassen sich für die Politik aus dem estnischen Beispiel ziehen? Erstens: Ein Kurzbesuch in Estland ist empfehlenswert. Die Bundeskanzlerin war schon vor Ort, auch gibt es viele Delegationen aus Deutschland. Aber bis auf den Besuch von Angela Merkel hat sich die Bundesspitze anscheinend noch nicht informiert.
Ich schlage deshalb vor, dass das gesamte Kabinett zusammen nach Estland fährt, um sich schlauzumachen. Das könnte die Initialzündung für die längst überfällige Digitalisierung der deutschen Verwaltung sein. Ausreden gelten nicht, es ist eine Frage des politischen Willens. Und der sollte angesichts der Zahlen enorm sein.
Quelle: Anne Großmann Fotografie
Link:
https://www.welt.de/debatte/kommentare/article181941414/Estland-Der-Ruf-als-digitales-Musterland-ist-mehr-als-gerechtfertigt.html