Anschlag in Hanau
Extremismusexperte Florian Hartleb: „Ein Terrorist ist immer ein Kind seiner Zeit“
Von Dominik Guggemos
Man könne zwar indirekt das politische Klima in Deutschland für den Terroranschlag in Hanau verantwortlich machen, aber sich zu sehr auf die AfD zu konzentrieren, wäre zu einfach, findet Florian Hartleb. Er ist Politikwissenschaftler, Terrorismusexperte und hat das erste deutschsprachige Buch über „einsame Wölfe“, wie zum Beispiel Tobias R., geschrieben.
Florian Hartleb: In der Regel sind schon lange psychische Auffälligkeiten da. Bei Breivik und anderen Tätern wurde schon in der Kindheit Autismus diagnostiziert. Dann kommt eine Phase der Kränkungen und Frustrationen hinzu. Der Täter von Hanau hat nach eigenem Bekunden keine Frau abbekommen. Der dritte Aspekt ist dann der politische Radikalisierungsprozess. Und der führt zum vierten Punkt: dieser geht dann so weit, dass es zu einem so genannten Trigger kommt, also zu einem auslösenden Ereignis. Dann plant der Täter ganz konkret einen Anschlag.
Und im Fall von Tobias R. in Hanau?
Wenn man Manifest liest, sieht man, dass der Täter offenbar Verfolgungswahn hatte und Paranoid war. Die Persönlichkeit des Täters muss immer berücksichtigt werden. Das ist häufig auch ein Graubereich zum Wahnsinn. Da ist Breivik ein gutes Beispiel: ein Gutachter kam zu dem Schluss, er sei gestört gewesen, andere haben gesagt, er sei schuldfähig. Man muss sich aber auch mit der politischen Radikalisierung mitten unter uns beschäftigen.
Welche Rolle spielen rechtsextreme Gruppierungen in der Rekrutierung?
Anders als bei islamistischen Gruppierungen wie Al Quaida oder Isis gibt es nicht den großen Anführer, der anleitet und Verheißungsversprechen macht. Bei Rechtsextremen ist es eher so, dass der Täter aktiv ist, im Internet sucht und sich da sein Weltbild zurechtschnitzt. Auffällig bei der Tat von Hanau ist, dass Tobias R. die Verschwörungstheorien adaptiert hat, die ein bisschen an die Reichsbürger erinnern. Zum Beispiel, dass hier die große Geheimpolizei ist und die Amerikaner eh alles bestimmen.
Ist diese passive Rekrutierung, wenn man so will, noch gefährlicher, weil der Staat die Hintermänner schwerer zu fassen bekommt?
Der Täter saugt alles, was er im Internet findet, auf wie ein Schwamm. Die „anonyme Macht“, die Tobias R. zitiert, kennt man aus den gängigen Verschwörungstheorien. Das reimt sich der Täter alles zusammen. Und dann kommt eine perfide PR-Strategie hinzu. Der Täter will die Weltöffentlichkeit erreichen. Breivik hat sein Manifest ganz bewusst auf Englisch verfasst. Der Täter will selber für die Vermarktung sorgen. Und das macht es natürlich gefährlich. Denn das sorgt dann wieder für Nachahmungstäter.
Das heißt einsame Wölfe stacheln sich gegenseitig an?
Ja. Im März 2019 gab zunächst das Attentat in Christchurch. Der Täter hat in seinem Manifest geschrieben, dass Breivik sein Idol sei. Im Oktober dann der Anschlag von Halle. Jetzt Hanau. Daraus entsteht eine Art Kettenreaktion. Wir leben in Zeiten des Individualterrorismus. Da fühlen sich andere einsame Wölfe dazu befähigt, loszuschlagen. Es gibt sogar eine virtuelle Ahnengalerie mit Score-Punkten.
Wie sehen Sie die Rolle von YouTube und Facebook in der Radikalisierung?
Die Debatte über Facebook gibt es schon länger. Die Terroristen sind schon einen Schritt voraus. Der Täter von Hanau hat auf seine eigene Website verwiesen. YouTube ist natürlich eine wichtige Quelle. Breivik hatte 2011 schon ein YouTube-Video, neben seinem Manifest. Es gibt auch Plattformen, auf die dann Manifeste hochgeladen werden. Im virtuellen Raum gibt es viele Möglichkeiten, um für die Selbstvermarktung zu sorgen.
Es gibt aber auch Offline und Analog Möglichkeiten zur Radikalisierung.
In der Publizistik gibt es viele Verschwörungstheorien. Ich denke da zum Beispiel an den Kopp-Verlag. Das Problem ist weitreichender als nur in der Online-Welt.
Was für Lösungsansätze gibt es für Politik und Gesellschaft?
Da gibt es verschiedene. Zum Beispiel die Umarmungsstrategie. Nach Breivik in Norwegen und Christchurch gab es die Aussage: unsere Reaktion ist mehr Offenheit. Die zweite Möglichkeit ist, eine politische Kraft für die Anschläge verantwortlich zu machen. Was jetzt in Deutschland auch passiert ist.
Aber die einsamen Wölfe sehen auch, dass ein signifikanter Anteil der Bevölkerung die AfD wählt. Das kann sie anstacheln …
Generell gilt: Der Terrorist ist immer auch Kind seiner Zeit und von gesellschaftlichen Entwicklungen. Und wir leben in einer Zeit, in der rechtsradikale Parteien Wahlerfolge feiern. Man kann indirekt ein geistiges Klima für die Tat von Hanau verantwortlich machen. Aber ich warne vor Simplifizierung, das Problem ist vielschichtig. Das rein mit der AfD zu erklären, wäre auch verkürzt. Im Manifest von Hanau wird sie nicht erwähnt. Man sollte die Reichsbürger nicht vergessen, davon gibt es in Deutschland schätzungsweise 16.000.
Was können die Sicherheitsbehörden tun?
Bei der letzten BKA-Herbsttagung war der Rechtsterrorismus schon großes Thema. Man könnte das Personal massiv aufstocken, auch technologisch aufrüsten und die virtuellen Aktivitäten viel stärker verfolgen.
Braucht es mehr Forschung zu einsamen Wölfen?
Ich habe das erste deutschsprachige Buch zu dem Thema geschrieben. Das Thema ist bisher noch nicht ausreichend beleuchtet worden. Das liegt auch daran, dass Experten Terrorismus immer als Gruppenphänomen gedeutet haben. Nur zwei Prozent aller terroristischer Anschläge werden von Einzeltätern begangen. Aber die Tendenz ist steigend, nicht nur in Deutschland.
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