Viel ist aus dem Lot derzeit. Ist das nur der Corona-Pandemie geschuldet?
Der Daueralptraum „Corona“ ist ein tiefer Einschnitt für uns alle. Das Problem ist aber größer und hat schon seit der Flüchtlingskrise im Herbst/Winter 2015 gesamtgesellschaftliche Ausmaße angenommen. Selbst ehrenamtlich Tätigen schlägt eine Welle des Hasses entgegen. Eine laute, schrille Minderheit, die in Filterblasen und Echokammern lebt, gefährdet den Konsens in Politik und Gesellschaft. Wir leben im postfaktischen, hoffentlich nicht im postdemokratischen Zeitalter.
Querdenker, Populisten, Extreme aus beiden Lagern gehen auf die Straße und wettern gegen die Demokratie. Die Politik tut sich schwer, dagegen anzugehen, warum?
Der Ausbruch der Covid-19-Pandemie ist von einer „massiven Infodemie“, einer Überschwemmung an Informationen begleitet worden. So wird behauptet, das Virus sei eine Erfindung einer reichen Elite, um sich die Taschen zu füllen oder die Weltbevölkerung zu dezimieren. Es gibt Meinungsfreiheit auf der einen Seite, auf der anderen Seite keine Gewissheiten. Die Politik kann nur auf Sicht fahren und hoffen, dass es bald einen Impfstoff gibt. Querdenkende Impfgegner werden dann aber weiterhin wettern, zumal es eine Impfpflicht nicht geben kann.
Die USA, die sich wegen ihrer freiheitlichen Demokratie rühmen, waren mit Trump drauf und dran, alle Mechanismen dieser Staatsform auszuhebeln. Trotz Bidens Sieg bleibt ein gespaltenes Land zurück. Was geschieht da gerade?
In unseren Schulbüchern wurden und werden die USA als leuchtendes Beispiel beschrieben. Wir denken an den amerikanischen Traum, Hollywood, die Kennedys und Obama. Die Realität ist aber längst eine andere: Der Narzisst Donald Trump war ein Krisenphänomen, Produkt und Folge einer gewaltigen Polarisierung im Lande. Dass ein abgewählter Präsident nicht in der Lage ist, eine Wahlniederlage einzugestehen, kann als Tiefpunkt in der politischen Kultur gelten. Trump hinterlässt verbrannte Erde und eine fanatische Anhängerschaft.
Kann das auch bei uns passieren? Die Demokratie ist auch bei uns aus dem Tritt schreiben Sie. Wie konnte es dazu kommen. Warum wählen so viele Menschen populistische Parteien?
Populisten setzen auf Vereinfachung und Zuspitzung in Zeiten des täglichen Informations-Overkills. Ihr Erfolg gründet sich aber vor allem auf eine negative Sicht der gegenwärtigen und zukünftigen politischen wie wirtschaftlichen Lage. Hier gibt es einen merkwürdigen Widerspruch: Obwohl es ihnen mitunter gut geht, herrscht unter den Wählern populistischer Parteien die Meinung vor, mit dem eigenen Land und der Gesellschaft gehe es bergab. Nach dem Motto: In der Vergangenheit lief vieles besser, in der Zukunft schwant hingegen böses: Europäisierung und Globalisierung hätten fast nur negative Seiten.
In ganz Europa schlägt der islamistische Terror grausam zu. Die Regierungen bekommen das nicht in Griff. Welche Rolle spielt der Extremismus?
Die Diskussion geht im Zuge der Aufregung um Covid-19 beinahe unter. Die jüngsten Anschläge von Dresden, Paris, Nizza und Wien zeigen, dass die Gefahr des islamistischen Terrors unter uns weilt und die islamische Welt in eine Gewaltspirale geraten ist. Die Zustände in Frankreich, wo Parallelgesellschaften existieren, sollten uns zu denken geben. Die Einwanderungsgesellschaft hat auch sichtbare Schattenseiten, was nicht nur im Zuge der „Willkommenskultur“ geleugnet wurde. Hier gibt es Versäumnisse, die sich nun bitter rächen.
Sie haben ein Buch geschrieben, das Antworten geben will. Kann man Ihr Buch als eine Art Gebrauchsanweisung verstehen?
Junge Menschen in Deutschland können sich heute kaum mehr vorstellen, wie es ist, in einer Diktatur zu leben. Sie haben weder die Diktatur der Nationalsozialisten noch die Diktatur der ehemaligen DDR persönlich erfahren. Gerade deshalb ist eine Struktur wichtig. Wir brauchen einen neuen Baukasten der Politik. Nie wieder Krieg, reicht nicht mehr als Botschaft, um etwa für die Europäische Union zu werben.
Glauben Sie, gegen Politikverdrossenheit und die zunehmende Unbeliebtheit der Demokratie anschreiben zu können?
Anschreiben ist besser als Anbrüllen. „Die da oben machen doch sowieso, was sie wollen.“ Wie ein Refrain erklingt dieser Satz landauf, landab auf Stammtischen und Demonstrationen, aber auch beim Gespräch mit dem Nachbarn über den Gartenzaun. Die Flut an Informationen durch herkömmliche und neue Medien lassen die Welt immer komplexer erscheinen. Das heutige digitale Zeitalter stellt Politik und Politikvermittlung vor gänzlich neue Herausforderungen. Die Aufmerksamkeitsdauer sinkt, das Grundwissen über politische Vorgänge nimmt ab und die Informationsflut ermöglicht keinen klaren, unverstellten Blick. Gerade die jüngere Generation hat nicht mehr den direkten Zugang zum Wesen der Politik. Diesen Zustand mag man beklagen, doch umso mehr tut ein neuer, frischer und unvoreingenommener Ansatz Not.