Terror in Europa. Die Ohnmacht gegenüber dem Einsamen Wolf
Die Politik sollte sich von der Vorstellung lösen, dass feste Organisationen hinter Anschlägen stecken. Die Täter von Nizza, Würzburg und Orlando waren Einzelkämpfer. Das bringt neue Herausforderungen mit sich. Ein Gastbeitrag.
20.07.2016, von FLORIAN HARTLEB
© DPAIn Nizza sitzt der Schock nach dem Attentat tief. Der französische Geheimdienst hatte den Einzeltäter nicht auf dem Radar gehabt.
Leben wir im freien Europa mitten in einem oder gar in einem ganz neue Zeitalter des Terrorismus? Wird das Leben hier wie in Israel, wo die Menschen mit dem Bewusstsein leben, dass überall Gefahr droht? Die Lastwagen-Attacke am französischen Nationalfeiertag auf der Prachtmeile in Nizza vom 14. Juli, der mehr als 80 Menschen zum Opfer fielen, könnte schnell zu dieser Schlussfolgerung führen. Offenbar hat der Täter aus radikal-islamistischen Motiven gehandelt. Er fühlte sich wohl durch andere islamistische Einzeltäter der jüngsten Zeit inspiriert, so makaber das klingen mag.
Aus rationaler Perspektive eigentlich paradox: Zu den Opfern gehörten auch zahlreiche Muslime. Nun hat ein Jugendlicher in einem Regionalzug bei Würzburg Reisende mit einer Axt angegriffen und verletzt. Bei dem Flüchtling fand sich eine handgemalte Flagge der Dschihadistenmiliz „Islamischer Staat“, weshalb man von einem Terrorakt sprechen muss.
© FLORIAN HARTLEB Politikwissenschaftler Florian Hartleb
Es gibt derzeit zwei Formen des Terrorismus: das terroristische Netzwerk, wie es in Paris und Brüssel zugeschlagen hat. Und den Einzeltäter, den sogenannten einsamen Wolf. Dieser Typus ist offenbar in der westlichen Welt im Moment populär, wie die jüngsten Fälle besonders drastisch zeigen. Schon seit Jahren ist immer wieder davon die Rede, dass die islamistischen Terrororganisationen, erst Al Qaida und dann der so genannte „Islamischen Staat“ (IS), zu Terrorakten aufrufen, die kleine Zellen oder sogar „Einsame Wölfe“ begehen sollen.
Letztgenannte sind Einzeltäter, die agieren, ohne direkt zu einer Terrororganisation zu gehören und einer Hierarchie unterworfen zu sein. Anschläge mit Fahrzeugen gelten generell als perfide und waren in dieser Form nicht mitten in Europa, sondern aus anderen Weltregionen bekannt. Ob die Attentäter letztlich Überzeugungstäter sind, ob sie sich tatsächlich für die Weltherrschaftsansprüche der Dschihadisten interessieren, ja sogar, ob sie überhaupt gläubige Muslime sind – all das spielt für die IS-Führung längst keine Rolle mehr. Sie verordnet via Internet quasi Terror als „Mitmach-Ereignis für jedermann“, vor allem für Menschen aus arabischen Ländern, die ihrem verpfuschten Leben in den westlichen Gesellschaften einen Sinn verleihen wollen. Motivation sind fanatischer Ehrgeiz, Frust und Radikalisierung, woraus eine „persönliche Kränkungsideologie“ entsteht. Diese führe dazu, dass sich die Täter dabei „selber schulen“. Es zeigt sich jetzt: Der geschwächte IS schlachtet die Trittbrettfahrer für seine Propaganda aus.
Vom radikalisierten Außenseiter zum Terrorist
Der Begriff des „einsamen Wolfes“ wird immer wieder synonym für Eigenbrötler, Individualist, Außenseiter, Underdog oder Einzelkämpfer gebraucht. Ein wesentliches Merkmal der „einsamen Wölfe“ scheint zu sein, dass sie eine Phase der eigenen Radikalisierung neuerdings via Internet und soziale Medien erfahren. Isoliert von der Gesellschaft, scheinen sie heute ihre Taten minutiös planen zu können. Der Einsame-Wolf-Terrorismus ist das Produkt der Selbstradikalisierung eines Individuums, die von einer im Einzelfall zu gewichtenden Mixtur aus persönlichen Kränkungen und politisch-ideologischen Motiven ausgelöst wird. Im Unterschied zum Amoklauf ist dieser Terrorismus politisch motiviert.
Bisher wurde der Spezies der politisch motivierten Mehrfach- und Intensivtäter zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Denn nicht einmal zwei Prozent aller terroristischen Anschläge gehen auf das Konto von „einsamen Wölfen“, wobei die Häufung in den Vereinigten Staaten signifikant ist. Amerikanische Behörden führten die Bezeichnung auch in den 1990er Jahren ein. Zuletzt hat im Juni ein Täter in Orlando ein Massaker an Homosexuellen veranstaltet. Auch er bekannte sich zum IS.
In der digitalen Gesellschaft von heute hat sich die Bandbreite an Möglichkeiten für Terroristen aller Couleur, nicht nur für islamistisch-fundamentalistische Fanatiker, deutlich erweitert. Anders als beim herkömmlichen, von Gruppen organisierten Terrorismus, muss dem Anschlag nicht unbedingt eine Ausbildung in einem Terrorcamp vorausgehen. Der Radikalisierungsprozess der Attentäter vollzieht sich inmitten der Gesellschaft. Drastisch zeigte das vor fünf Jahren der norwegische Einzeltäter Anders Behring Breivik, geboren und aufgewachsen in Oslo.
Der Terror ist in Westeuropa nicht neu
Politik, Behörden und Öffentlichkeit sollten sich von der Vorstellung lösen, dass feste Organisationen und Kommandostrukturen hinter Anschlägen stecken müssen. Angst wie Unsicherheit über die Art der Bedrohung sind also mit Händen zu greifen – zu Recht. Nicht erst seit der Tat von Nizza wissen die Drahtzieher des IS, dass es in den Städten Europas genügend junge Männer ausländischer Herkunft gibt, die für den Weltkrieg der Islamisten mobilisierbar sind, und das offenbar auch ohne direkten Kontakt.
Doch ist der Terror in Westeuropa nicht neu. Europa wurde von den siebzigern bis Mitte der neunziger Jahre immer wieder von Terrorwellen heimgesucht. Meisten steckten Terrororganisationen wie hierzulande die RAF dahinter. Jährlich 100 bis 400 Menschen fielen Anschlägen zum Opfer. Globale Datenbanken zeigen, dass der Terrorismus weltweit zunimmt, nicht aber in Europa. In manchen Ländern sind Parallelgesellschaften entstanden. So ist es kein Zufall, dass ausgerechnet in Paris und Brüssel Terroristen agierten. Auch Nizza gilt als Zentrum für islamistische Extremisten.
Unabhängig, ob diese bereits eine Laufbahn als Kleinkriminelle einschlugen oder vorgeblich voll integriert waren, wollen sie in der derzeitigen Konstellation Teil eines „Befreiungskampfs“ sein. 2016 wird als schwarzes Jahr in Europas jüngste Terror-Geschichte eingehen. Kommentare sprechen unter dem Eindruck der Ereignisse davon, dass der Terror in Europa nun allgegenwärtig sei. Manche Boulevardzeitung lässt vermuten, dass in Frankreich, Belgien oder Spanien hinter jeder Ecke ein Terrorist lauert.
Auf Einsamer-Wolf-Terror folgt politisches Placebo
Wer so argumentiert, macht sich zum Erfüllungsgehilfen terroristischer Absichten, die sich gerade aus Selbstilisierung und -erhöhung speisen. Wir sollten uns vor solchen Bildern und Dramatisierungen hüten, auch zum Selbstschutz. Gegenüber einem derart perfiden Einsamen-Wolf-Terrorismus wie jetzt in Nizza helfen alle Vorkehrungen, etwa Grenzkontrollen und die immer wieder diskutierte Rasterfahndung nicht. Diese wurde in der Bundesrepublik in den für die Fahndung nach RAF-Terroristen entwickelt. Voraussetzung dafür wäre aber eine polizeiliche Erfassung. Einsame-Wölfe führen aber oftmals nur eine einzige Tathandlung aus.
Bereits 2011 sagte Präsident Barack Obama, die „einsamen Wölfe“ seien die größte Gefahr für die Sicherheit der Vereinigten Staaten. Vieles in der Reaktion auf derartige Terrorakte ist politisches Placebo, zumal Politiker entschlossenes Handeln vorgeben müssen. Vielleicht hilft eine strengere Abschiebepolitik gegenüber Migranten mit und ohne Staatsbürgerschaft, die als Kleinkriminelle auffällig geworden sind. Die allermeisten Attentäter aus jüngster Zeit haben einen kriminellen Hintergrund. Das liegt auch daran, dass der IS sich keine Mühe gibt, eine religiöse Fassade aufzubauen. Er verspricht jungen Männern, die auf die schiefe Bahn geraten sind, sie von der Last ihrer Vergangenheit zu befreien. Das ist eine erstaunliche Parallele zwischen den Terroranschlägen von Paris, Brüssel und Nizza. Dennoch sollte auch für Berlin oder Wien das Motto gelten: „Man darf sich nicht terrorisieren lassen.“
Dr. Florian Hartleb, geboren 1979 in Passau, ist ein deutscher Politikwissenschafter und -berater, der momentan in Tallinn in Estland lebt. Er hat sich im Zusammenhang mit dem Fall „Breivik“ in Norwegen intensiv mit dem Konzept des Einsamen-Wolf-Terrrorismus auseinandergesetzt.
Link:
http://www.faz.net/aktuell/politik/kampf-gegen-den-terror/terror-in-europa-die-ohnmacht-gegenueber-dem-einsamen-wolf-14347658.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2