Von Estland digital lernen! (mein Gastkommentar in der Welt)

Am estnischen Unabhängigkeitstag am 24. Februar 2016: 

Mein Gastkommentar “Von Estland digital lernen!” in der Tageszeitung “Die Welt”, auch online: 

DIE WELT

GASTKOMMENTAR

24.02.16

Von Estland digital lernen!

 

Die europäische Verteilung von Flüchtlingen klappt nicht. Man nehme das kleine Estland: Dahin kommen bis jetzt weniger Flüchtlinge, als das Land selbst nach dem Solidaritätsprogramm aufnehmen will, aber trotz Bemühungen nicht kann. Das wären ohnehin nur 540 Menschen, für deutsche Verhältnisse vernachlässigbar. Im “Spiegel”-Magazin hieß es vor Kurzem, auch wegen des Klimas wolle keiner nach Estland und dort leben. Stimmt das?

 

Estland versteht sich selbst als nordischer Staat und passt allein wegen der sprachlichen Nähe eher zu Finnland als zu Lettland oder Litauen. Estland hat seinen Charme: Neben der Hansestadt Tallinn gilt das für den Kurort Pärnu, die traditionelle Universitätsstadt Tartu oder das Wintersport-, Skilanglaufgebiet Otepää, viel Wald und Natur. Besonders schön ist das malerische Ostseestädtchen Haapsalu, woher die Illustratorin der Astrid-Lindgren-Bücher Ilon Wikland stammt.

In Estland gibt es einen gesunden Patriotismus, Stolz auf die lange ersehnte Unabhängigkeit. Der Systemwechsel hin zu einer liberalen Demokratie ist im 1991 unabhängig gewordenen Land abgeschlossen. Das soll nicht heißen, dass Probleme wie Braindrain, fehlendes Big Business von Einheimischen, gehäufte Korruptionsfälle in der letzten Zeit oder die mangelnde Integration der russischstämmigen Minderheit nicht existieren.

Manchmal stößt man auch auf Brüche im Land: Eine postsowjetische Tristesse, gerade im Osten des Landes, etwa in Narva an der Grenze zu Russland, ist deutlich zu spüren. Die 60.000-Einwohner-Stadt wird zu 95Prozent von ethnischen Russen bewohnt.

Das Exportmodell von Estland lautet Digitalisierung – ein Prozess, den junge Politiker im rohstoffarmen Land bereits in den Neunzigerjahren als zentralen Schlüssel erkannten. Kostenloses WLAN gibt es fast überall. Internationale Medien erkennen einen Trendsetter Europas. Immerhin liegt die geistige Vorbereitung von Skype in Estland. Freelancer wie ich finden also perfekte Arbeitsbedingungen vor – mit schnellem WLAN lässt sich fast überall arbeiten. Die SIM-Karte als Personalausweis? Steuererklärung per Mausklick? Weltrekord in der Firmengründung mit 18 Minuten und drei Sekunden? Programmierer bereits in der Grundschule? Digitale Krankenakte? Politiker mit Tablets statt Aktenbergen? In Estland ist das alles Realität, ohne dabei den Datenschutz zu vernachlässigen. So ist auch das Cyber-Security-Zentrum der Nato hier angesiedelt.

Die Wege im Land sind kurz, analog wie digital. In Tallinn ist man in 30Minuten überall, im Land innerhalb von drei Stunden. 98 Prozent der Esten machen ihre Steuererklärung online, die Generation 60 plus beteiligt sich überdurchschnittlich stark an den landesweiten Wahlen via Mausklick. Ausländer können seit Ende 2014 über die staatlich garantierte digitale Identität verfügen. Firmengründungen nach estnischem Recht sind dann möglich; die digitale Unterschrift erlaubt dem Unternehmer ortsunabhängiges Arbeiten. In Deutschland wird gerade das Zeitalter von Industrie 4.0 und digitaler Transformation eingeläutet. In Estland gibt es die digitale Gesellschaft längst – und das unaufgeregt und konfliktfrei. Man muss also kein Flüchtling sein, um hier leben zu dürfen, leben zu wollen.

Der Autor, geb. 1979 in Passau, ist Politikwissenschaftler und arbeitet in der Politikberatung.

Link: 

http://www.welt.de/print/die_welt/debatte/article152580413/Von-Estland-digital-lernen.html